15/07/2022 Psychopharmaka

Diese Zeilen sind für alle, die sich fragen, ob Medikamente für psychische Erkrankungen richtig sind. Es ist auch ein versöhnlicher Text an mein Alter Ego. Denn ich selbst habe über einige Jahre mein Nein zu Psychopharmaka manifestiert. Ich brauchte Zeit, Einsicht und eine erste richtige Krise, um mich darauf einzulassen. Frage ich mich, ob ich schon damals ja zu Medikamenten hätte sagen sollen? Eher nicht. Damals hatte ich das Wissen und Vertrauen nicht, dafür leichtere Alternativen wie eine Trauma-Therapie.

Zeitpunkt

Orientierung gibt die Einteilung in leichte, mittelgradige und schwere Depressionen. Ab einer mittelgradigen Depression kann diese Frage konkret mit einer Psychologin/einem Psychologen und/oder einem/r Psychater/in besprochen werden. Ist die Depression schwer oder droht sie immer wieder zu kommen (wie bei mir) oder sich zu chronifizieren, betrachte ich diese Abwägung als sehr wichtig. In akuten Episoden sind schnell wirksame Präparate Lebensretter. Ohne die wäre ich längst nicht mehr hier, um meine Erfahrungen teilen zu können.

Ohne die unterschiedlichen und individuellen Ausgangspunkte zu kennen, steht meist Misstrauen im Fokus. Was genau bewirkt ein Antidepressivum, warum wird mir genau dieses Präparat vorgeschlagen? Hat es, neben dem Umsatz für die Pharmaindustrie ein echtes Potential, meine mentale Gesundheit nachhaltig zu verbessern? Wann tritt die Wirkung ein und was, wenn nicht? Was sind die Nebenwirkungen und gehen diese nach einer Gewöhnung wieder weg? Wie lange muss ich es einnehmen?

Wie in vielen Szenen beim Arzt empfehle ich, alle Fragen aufzuschreiben und zu stellen. Oft scheint es, dass Ärzte/Ärztinnen in ihrem Alltag die persönliche Tragweite dieser Entscheidung nicht mehr nachfühlen. Es ist Routine geworden. Zudem ist Zeit ein knappes Gut. Wundert euch nicht, sondern fordert Antworten ein. Holt euch einen Angehörigen ins Gespräch, wenn die Kraft allein nicht reicht. Es ist euer Gehirn, euer Körper. Das Vertrauen in die ärztliche Beratung ist die Basis, um sich voll auf die medikamentöse Therapie einlassen zu können. Tauscht euch mit nur wenigen Betroffenen aus, recherchiert auf seriösen Seiten wie der der Deutschen Depressionshilfe und macht einen Bogen um Foren und Suchmaschinen. Wie bei Käuferbewertungen wird es immer Stimmen gegen alles geben. Für pauschale Aussagen ist die Thematik zu komplex. Es gibt lokale Selbsthilfegruppen oder Gesprächsangebote, die weniger oberflächlich Informationen und Erfahrungen miteinander teilen.

Für und wider

Wir fragen uns, was wir durch Medikamente verlieren können. Vor allem, wenn wir den Beipackzettel studieren. Habt ihr euch diesen mal bei Kopfschmerztabletten durchgelesen? Nein? Genau, sind ja nur Kopfschmerzen und eine Einnahme an maximal 3-4 Tagen. Psychopharmaka greifen in die biochemischen Prozesse im Gehirn ein und ich nehme sie meist mindestens ein Jahr lang. Da ist es verständlich, skeptisch zu sein und zu hinterfragen.
Wir dürfen uns auch fragen, was wir durch Medikamente gewinnen. Es ist die Chance auf eine Besserung, ein Weg zurück in ein lebenswerteres Leben. Wir können stabiler werden, Sicherheit und Vertrauen neu aufbauen. Beziehungen wieder empfinden und schöne Gedanken denken, uns besser fühlen. Und was wäre die Alternative? Wenn ich gefühlt alles versucht habe, von Therapie über Sport und Achtsamkeit bis zur Kur, und ich nichts mehr zu verändern weiß, dann wird Zeit allein nur selten reichen. Natürlich ist es deine Entscheidung, keine Medikamente zu probieren. Es ist auch deine Entscheidung, Medikamente zu nehmen und zu prüfen, ob es es aufwärts geht. Es ist genauso deine Entscheidung, den Versuch in ärztlichen Begleitung zu beenden. Bitte nie allein einfach absetzen, es gibt Absetzsymptome. Sogar beim langsamen Ausschleichen, also reduzieren der Dosis, kommen körperliche Symptome häufig vor.

Nun stelle dir vor, du hast dich für Medikamente entschieden und sie wirken. Erste Veränderungen ins Positive werden spürbar. Alle zehn Tage bemerkst du neue Verbesserungen. Nach drei Monaten kannst du dir kaum vorstellen, dass es dir „damals“ so mies ging. Wie schnell es doch aufwärts gehen und stabil bleiben kann. Für diese Option lohnt sich die Abwägung sehr. Es braucht ein wenig Mut, es braucht Experten, die einen begleiten, und vielleicht die Worte von jemandem, der vor derselben Entscheidung stand wie du jetzt.