10/10/2020 Ein Lauf der Gegensätze

Die Sonne ging gerade auf, da lief ich los. Ich hatte bereits eine Stunde in meinem Sportoutfit gesessen und an meinem Buch LICHTSCHATTEN gearbeitet. Ein Erfahrungsbericht über das Wechselspiel von Glück und Trauer. Ein fiktives Selbstgespräch zwischen meinem depressiven und meinem gesünderen Ich.

Der Hintergrund ist, dass joggen als Frau alleine im Dunkeln mir zu unheimlich ist.

Teil 1: Ich ging zügig bis zum Kanal an der Straßenecke. Dem Punkt, von dem ich gestern erst geschrieben hatte. Der Himmel hell, aber trüb. Dann lief ich voller Energie los. In zügigem Tempo zwischen Wasser und Grünfläche. An einer Kita, einem Sportplatz und einer Schule vorbei. Voller positivem Antrieb. Mein Etappenziel war die Hausnummer 95. In wenigen Tagen werden wir hier eine Wohnung besichtigen. Die Vorfreude steigt ebenso wie die Hoffnung, das es passen wird. Den Grundriss habe ich mir nach dem Telefonat mit dem Vermieter bereits aufgemalt. Einige Möbel habe ich bereits auf die verschiedenen Zimmer verteilt. Meine Tochter hat jetzt im Urlaub schon ihren aus Holz geschnitzten Garderobenhaken (ein Reh) gekauft. “Den nehme ich mit in die neue Wohnung. Dann kann ich gucken, wo er hängen soll. Und ich nehme das Zimmer hier (und zeigt auf meine Vision vom Grundriss der Wohnung) “. Ich komme an dem Krankenhaus vorbei, in dem ich meine Kinder geboren habe. Am Eckhaus gegenüber wohnt eine Freundin meiner Tochter aus ihrer Schulklasse. Seit Wochen wünscht sie sich hier in diesen Altbau-Block zu ziehen, um ihrer Freundin näher zu sein und mit ihr zusammen zur Schule gehen zu können. Apropos Schule. Nach wenigen Schritten am Gebäude entlang steht der Rohbau des 2. Standortes ihrer Schule. Nach weiteren Schritten stehe ich vor einer Eingangstür. In den 10 Jahren, in denen ich hier auf der Ecke wohne, bin ich gefühlt 1.000 Mal daran vorbei gegangen. Jetzt habe ich einen Namen, nach dem ich auf dem Klingelschild suche. In wenigen Tagen werde ich diesen Klingelknopf drücken und wissen, ob ich dem Traum von mehr Raum und Freiheit ein Stück näher bin. Ich gehe weiter, ums Eck und schaue hinauf zum 4. Stock. Es fühlt sich gut an.

“Mit guten Karten kann man alles machen”, höre ich meine Tochter im Nebenzimmer mit meinem Mann ein Kartenspiel spielen.

Ich hoffe das Beste für uns. Zurück zum Joggen.

2. Etappe: Ich laufe zur anderen Straßenseite, ein Stück zurück und biege in eine Nebenstraße ein. Um inne zu halten. Vor einem Meer aus niedergelegten Blumen, Worten und brennenden Kerzen.

Ein junger Student ist hier vor wenigen Tagen angegriffen und schwer verletzt worden. Weil er Jude ist. Ich gehe ich in die Knie, lese von Genesungswünschen, Anteilnahme und Fassungslosigkeit. Neben mir ein Polizist mit Maschinengewehr. Einer von Vieren, denke ich. Einer mehr als vor diesem Anschlag. Ich schaue in den Himmel und bete zum Mond. Seit meinem Verlust habe ich öfter ein Problem, meine Gebete an Gott zu richten, der doch mein Kind sterben ließ. Außerdem kennt der Mond keine Religionen. Alle Menschen sind aus seiner Perspektive so gleich, wie es als Wunsch in unseren Schriften und dem Grundgesetz geschrieben steht. Ich halte einem Moment inne und hoffe, dass der junge Mann eine Zukunft hat. Dass diese Gemeinde, vor der ich häufiger Familien mit Kindern hinein- und rausgehen sehe, eine geschützte Zukunft hat. Als wir vor 10 Jahren hierher zogen und ich die Sperrung der Durchfahrt mit Polizei-Häuschen und Maschinengewehren an Polizeibeamten sah, dachte ich “Warum ist das heutzutage noch nötig?”. Ich habe es mir schon damals zur Gewohnheit gemacht, über keinen der vielen Stolpersteine mit Namen und Jahreszahlen vor den Hauseingängen dieser Gegend zu laufen. Aus Respekt vor jedem einzelnen Schicksal. Spätestens seit dem Angriff auf die Synagoge in Halle an der Saale, der sich gestern erstmals jährte, ist mir klar warum es den Polizeischutz braucht. Mit dieser traurigen Erkenntnis wünschen der Polizist und ich uns gegenseitig noch einen schönen Tag und ich laufe weiter. Ein Schwarm grauer Tauben folgt mir am Himmel in Richtung Brücke. Ich springe in Gedanken zu meiner Einkaufsliste für den Bäcker, an dem ich Halt machen werde.

10 Minuten später sitze ich an einem gedeckten Frühstückstisch. Ich zünde die große Duftkerze mit 3 Dochten an und halte diesen Reichtum an Wärme, Gemeinsamkeit und Nahrung in einem Foto mit. Dieses teile ich via social media. Mein Schritt nach außen an die Öffentlichkeit. Und während ich diesen Beitrag zu Ende schreibe, schreibt meine Tochter neben mir erstmals selbst einen Brief an ihren Bruder im Himmel: “Liber V., ich würde gerne wissen wie Du aussiehst, jetzt mit 8 Jahren. Deine F., Deine Mama.” Ich darf ergänzen: “Ich liebe und vermisse Dich.”. Der Brief wird gefaltet und in ein elfenbeinfarbenes Kästchen gelegt. Es kommt in den kleinen gelben Wandschrank, der ausschließlich Erinnerungsstücke an unseren Sohn, an ihren großen Bruder, in Ehren hält. Wir haben Fotos von ihm, denke ich sofort. Doch ich finde, dass sie mit 7 Jahren noch nicht alt genug ist, um sich das Foto dieses kleinen toten Erdlings anzusehen. Zu schwer lastet dieses Bild allein schon als rein visuelle Erinnerung in meinem Herzen.
Das einzige Bild, das sie von ihm kennt ist ein gesticktes Abbild eines Ultraschallbildes. In einem runden Rahmen. Eine Künstlerin aus Amerika hat es nach einer Fotovorlage gestickt. Unfassbar realistisch, da sie selbst beruflich täglich Babys per Ultraschall untersucht. Es liegt seit Monaten im Schrank. Gestern habe ich es über unserem Bett auf die Bilderleiste gestellt. In die Reihe besonderer Erinnerungen: neben dem Schloss, in dem wir geheiratet haben. Dem fast kitschigen Pärchen-Foto von uns voller Jugend und Glück, das in der Küche einer noch heute sehr guten Freundin entstand. Dem Hamburger Hafen mit meiner Lieblingszahl 5 auf einen Poller. Und neben dem Chrysler Building in New York, eine Reise weniger Monate bevor ich erstmals schwanger wurde. Sowie dem Ausblick von unserem Balkon mit einer Fuchsie im Vordergrund. Aus dem Sommer in dem mein Sohn V. starb.

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